Über Sex sprechen

Meine Freundin Andrea und ich sind beide auf Tinder. Während sie mittlerweile endlich zugegeben hat, dass sie enfach nur rattig ist und einen Mann zum Sex sucht, ist es bei mir etwas komplexer. Ich bin nicht rattig, überhaupt nicht. Ich könnte ab jetzt völlig ohne Sex leben. Das wäre natürlich traurig, aber es beschreibt, wie stark 😉 mein Sexdrive zuzeit ist. Das hängt zum Teil mit den Wechseljahren zusammen, nehme ich an, zum Teil daran, dass das Kratom, das ich nehme, die Libido unterdrückt, und zum Teil einfach daran, dass ich keine willigen Opfer habe. Und diese willigen Opfer tauchen auch nicht auf, weil ich nicht suche und jeglichen sexuell geprägten Kontakt sofort abbreche. Sobald ich das Kratom jedoch absetze, kommt die Lust auch wieder. Da ich jedoch dankbar für meine „innere Ruhe“, bin finde ich den aktuellen sexlossen Status sehr gut. Mit aufregendem Sex kommt für mich immer auch emotionaler Stress. Um diesen Stress aushalten zu können, muss ich emotionaler stärker werden. Ich bin noch nicht soweit.
Aber ich schweife vom Thema ab. Andrea ist also auf einer Sexreise auf Tinder, und ich spiele im Hintergrund so etwas wie eine Tourguide.
Es hat lange gdeauert, bis Andrea überhaupt bereit dazu war, sich selbst gegenüber zuzugeben, dass sie Sex suchte. Es ging einfach nicht. Sie schob mich vor und wir stritten uns, weil ich keinen Bock dazu hatte. Sie versuchte mir zu erklären, dass es heutzutage als Frau völlig okay sei, Männer einfach so nur zum Sex zu treffen, und behauptete, dass ich verklemmt sei. Für mich ist es jedoch überhaupt kein Thema, ob oder dass Frauen Männern nur zum Sex treffen. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich das jemals verurteilt habe, aber heute ist es definitiv so, dass ich das in dieselbe Kategorie wie weibliche Äzrte oder das Wahlrecht für Frauen einsortiere. Es ist kein Thema, sagte ich ja schon. Deshalb war es mir auch nicht bewusst, dass unsere Streits sich nicht um meine angebliche Verklemmtheit drehten, sondern darum, dasss sie sich nicht sicher war, ob es okay wäre, selbst Sex zu haben.
Ich war ziemlich schockiert, als mir Verklemmtheit vorgeworfen wurde und habe mich emotional erst mal zurückgezogen. Ich habe nicht verstanden, was Andrea mir vorwarf. Sie kennt meine sexuelle Karriere nicht so genau wie dieses Tagebuch hier, aber sie weiß doch, dass ich in Swingerclubs war und mal als Domina gearbeitet habe. Eigentlich müsste das doch bedeuten, dass sie weiß, wie offen ich diesbezüglich eingestellt bin.
Wo ich jedoch „verklemmt“ bin, das ist die Tatsache, dass ich Angst habe, von einem Mann verletzt zu werden, wenn ich mal wieder seine Lust auf Sex mit Zuneigung verwechsele. Das ist mir in der Verganagenheit einfach zu oft passiert. Der Mann hat zu Beginn deutlich klar gemacht, dass er nur Sex wollte, verhielt sich dann aber so verbindlich und verliebt, dass ich glaubte, er hätte seine Meinung geändert, und fiel aus allen Wolken, als er sich dann doch lieber „trennen“ wollte als ein Verhältnis mit einer Frau aufrechtzuerhalten, die sich vorstellen könnte, eine feste Beziehung mit ihm zu führen. Davor hatte ich Angst, davor habe ich jetzt auch noch Angst, und ich habe Angst, dass Andrea in dieselbe Falle tappt.
Tatsächlich erzählte mir sie ja, dass sie sich eine „Exklusivaffäre“ wünscht. Meiner Meinung nach gibt es sowas nicht. Man hat entweder eine normale Beziehung oder aber man hat eine Affäre, bei der man aber nicht exklusiv nur mit diesem einen Partner Sex hat. Eine „Exkllusivaffäre“ kann meines Erachtens nur kurze Zeit funktionieren. Wenn alles neu ist, will man möglicherweise keine weiteren Partner. Aber wenn man sich kennt und der Aspekt der „fremden Haut“ wegfällt, dann will man (oder frau) frei sein, sich dieses Erlebnis mit anderen, neueren Partnern zu suchen. Genau deshalb hat man doch eine Affäre und keine feste Beziehung, oder sehe ich das falsch? Wenn Andrea also tatsächlich erwartet, dass der Kerl, den sie letzte Woche (tatsächlich) gefickt hat, jetzt nur noch mit ihr und keinen anderen Frauen Sex hat, dann ist die Verletzung vorprogrammiert, denn er hatte ihr von Anfang an gesagt, dass er nur Sex will.
Nach vielen Gesprächen verstand Andrea schließlich, dass ich (und der Rest der Welt) sie nicht verurteilen würden, wenn sie sich einfach nur so zum Sex mit einem Mann treffen würde. Ich musste ihr tatsächlich mehrfach sagen, dass ich glaube, dass sie „dringend gefickt“ werden müsse, bis sie die Zügel tatsächlich in die Hand nahm und in einer riskanten Aktion den ersten Mann traf, der sich ihr anbot. Sie war so wild auf das Treffen, dass sie nicht mal nach Fotos (außer dem einen Profilbild) fragte. Ich habe das selbst auch schon erlebt, da war ich dann so rattig, dass ich mich durch unvorteilhafte Fotos nicht von meinem Ziel abbringen lassen wollte.
Nun hat meine Freundin also diesen Mann getroffen und alles ist gut. Sie ist weiter auf der Suche, wird aber gerade nicht fündig. Ich habe ihr vorgeschlagen, auf expliziten Sex-Seiten wie z. B. dem Joyclub nach Sexdates zu suchen, aber das ist ihr zu „offensiv“. Tinder gefällt ihr besser. Dann muss sie eben Geduld haben.
Andrea will über Sex und ihre Bedürfnisse sprechen, kann es aber nicht. Man mag es kaum glauben, aber wir kennen uns seit 40 Jahren und habe noch nie darüber geredet, wie es ist einem Mann einen zu blasen oder welche Stellungen wir beim Sex vorziehen. Das Sexthema war nicht tabu, wir haben nur nie detailliert darüber gesprochen. Jetzt weiß ich, dass es so war, weil Andrea es nicht kann, bzw., weil sie völlig ungeübt ist. Weil sie verklemmt ist. Zurzeit.
Vor ein paar Tagen sprachen wir darüber, was sie sich wünschte, und bei der Gelegenheit erwähnte sie, dass der aktuelle Lover (der Typ, den sie jtzt einmal getroffen hat), wohl nicht besonders experimentierfreudig ist. Und sie sei es, betonte sie. Das hätte ein interessantes Thema sein können, wenn sie in der Lage gewesen wäre, mir zu sagen, was sie mit „experimentierfreudig“ meinte. War sie aber nicht.
Sexuelle Experimentierfreudigkeit kenne ich, und ich habe in meinem Leben alles ausprobiert, was mir irgendwie in die Finger bzw. zwischen die Beine gekommen ist. Sex zu vielen, Sex mit zwei Frauen und einem Mann, Sex mit zwei Männern und einer Frau, Sex im Swingerclub, im Freien, Sex mit Unbekannten, Sex als Domina/Bizarr Lady, Sex als Sklavin, Sex mit allen möglichen denknbaren und undenkbaren Hilfsmitteln, Sex als gespielte Vergewaltigung, Sex unter Drogen. Sex mit Handschellen, Sex mit Atemkontrolle, Sex mit Anpinkeln, Analsex, Sex als Rollenspiel. Ich habe bestimmt irgendwas vergessen.
Zum ersten Mal in unserer Freundschaft (!) fragte ich sie, was sie denn mit „experimentierfreudig“ meinte. Sie konnte nicht antworten. Nach langen Herumdrucksen, bei dem ich noch zwei mal nachfragte, ganz vorsichtig, um sie nicht zu verschrecken, konnte sie mir schließlich sagen, dass ihr Lover mit der „Doggie-Stellung“ zu frieden gewesen sei. Außerdem hätte sie das gemacht, was alle Männer mögen. (Ich schätze, sie hat ihm einen geblasen, aber wer weiß? Für mich ist das, was alle Männer mögen Sex mit zwei Frauen ;-)). Weiter konnte sie nichts sagen. Es kam einfach nicht aus ihr heraus. Ich erfuhr nicht, welche anderen Experimente sie sich wünschte.
Als ich sie fragte, was sie denn ausprobieren, experimentieren wollte, kam auch lange gar nichts. Ich wollte sie nicht bedrängen, letztendlich geht es mich nichts an, ob sie eine Vergewaltigungsfantasie hat oder heimlich vom Sex mit einer zweiten Frau träumt. Irgendwann aber äußerte sich sich dann doch. Sie sagte, sie hätte gerne mehr Stellungen probiert.
Stellungen? Stellungen? Experimentieren mit Stellungen?
Ich habe eingen ganzen Abend gebraucht, um das zu verdauen. Ist es wirklich so, dass „normale“ Menschen mit einem weniger sexuell aggressiven Hintergrund wie ich den Stellenwechsel beim Sex als „Experimentieren“ bezeichnen? Stellungen? Es will mir immer noch nicht in den Kopf. Stellungen macht man doch einfach. Das ergibt sich während des Liebesspiels. Mal sitze ich oben, mal liege ich unten, mal stehen wir, mal fickt er mich von hinten, mal machen wir eine 69er Stellung. Ich wage zu behaupten, dass ich, auch was Stellungen anbelangt, alles ausprobiert habe, was man ausprobieren kann. Das Problem bei all den vielgespriesenen „Kamasutra“-Stellungen ist nur, dass sie viel zu anstrengend sind, um sich wirklich sexuell auszutoben. Ich selbst bin glaube ich besonders anspruchslos, was die Stellungen anbelangt: Ich mag die Missionarsstellung, ich werde gerne von hinten gefickt. Der Rest kann interessant sein, wenn man sich z. B. besonders tief in die Augen schauen kann, oder auch, wenn er mit seinem Schwanz einen Winkel erwischt, mit dem er wirklich tief in mich hineinkommt oder gar den G-Punkt erwischt, aber eigentlich ist mir das alles zu aufwendig. Ich kommte am besten, wenn ich unten liege. Fertig.
Aber ist es wirklcih so, dass „normale“ Menschen sexuelle Experimente auf Stellungen (Stellungen!) beschränken? Sagt mal einer was, ist das das, was ihr unter „Experimentieren“ versteht?
Ich habe versucht, aus meiner Freundin rauszulocken, ob sie vielleicht Interesse an einem der Experimente hat, die ich tatsächlich als Experimente empfinde: Zum Beispiel Sex mit zwei Frauen, oder die allgegenwärtige Vergewaltigungsfantasie. Sie war jedoch unfhäig, mir eine Antwort darauf zu geben. Wahrscheinlich hat sie sich nie bewusst darüber Gedanken gemacht. „Fifty Shades“ hat sie allerdings mit Begeisterung (*würg*) gelesen, wahrscheinlich würde sie einen vorsichtig dominanten Mann nicht vom Bett schubsen.
Und hier muss ich einlenken: Ich war auch mal so. Vor 25 Jahren oder so fragten mich Männer immer wieder nach meinen sexuellen Fantasien, und ich war unfähig, etwas dazu zu sagen. Ursprünglich war es ja sogar so, dass ich überhaupt nicht verstand, warum die Leute überhaupt so viel Hype um Sex machten, lange war Sex für mich ausschließlich anstrengend. Einen Orgasmus bekam ich sowieso nicht, warum also Leistungssport im Bett betreiben? Das hat sich dann aber sehr schnell geändert, als ich mit Andreas zuusammen kam. Ich war damals Ende 30 (!), das ist ja eigentlich auch schon ein recht fortgeschrittenes Alter. Damals lernte ich, wie ich es anstellen kann, dass ich beim Sex mit einer zweiten Person zum Höhepunkt komme – das hatte vorher nämlich auch nicht geklappt. Mit Andreas begann ich, aktiv über meine Fantasien nachzudenken. Zunächst fiel mir wirklich überhaupt nichts ein, ich hatte, wie Andrea, üeberhaupt keine offenen Wünsche, glaubte ich zumindest. Dann aber setzte ich mich hin und machte eine Liste der Dinge, die ich gerne einmal ausrprobieren wollte. Und da platzte dann eines Tages der Knoten. Plötzlich sprudelten die Fantasien nur so aus mir heraus. Ich war also wirklich einfach „verklemmt“ gewesen. Als ich die „Verklemmung“ löste, kamen ganz viele Fantasien zum Vorschein, die ich auch schon länger hatte, nur eben mehr oder weniger unbewusst.
Sex mit einer Frau stand ganz oben auf der Liste, und die Vergewaltigungsfantasie kam gleich an zweiter oder dritter Stelle. Sex mit einer Frau stellte sich als ausgesprochen langweilig heraus – also gab ich diese Fantasie recht flott auf. Die Vergewaltigungsfantasie ist jedoch eine heikle Sache. Es ist einfach schwer, eine Vergewaltigung zu „spielen“. Ich muss überwältigt werden, aber man muss vorsichtig sein, man darf mich und meine Grenzen eben doch nicht oder nur ganz wenig überschreiten. Jürgen hat das mal versucht, aber das kam zum falschen Moment und ich fühlte mich tatsächlich ein wenig benutzt. Diese Fantasie ist also tatsächlich noch offen. Die meisten anderen Fantasien habe ich mehrfach in vielerlei Konstellationen ausprobiert, die meisten scheiterten an der Realität: Sex im Freien ist nicht geil, wenn ein hässlicher Kerl zuschaut und dabei wichst. Dasselbe gilt für Sex mit mehreren: Ich will schöne Menschen, und der Durchschnittsmensch erfüllt meine Kriterien an ein attraktives Aussehen ohne Klamotten nicht (ich selbst würde sie auch nicht erfülllen).
Ich habe meine Freundin nur aufgefordert, mal eine Liste mit Fantasien zu machen. Ich hoffe, dass sich die „Verklemmung“ bei ihr dann genauso löst wie bei mir vor 25 Jahren. Denn ich bereue nicht, was ich gemacht habe. Ich kann auf ein ausgesprochen erfülltes Sexlben zurückblicken. Ich habe mir rein gar nichts vekrniffen. Ich bin sehr zufrieden, was mein Sexleben anbelangt, und ich wünsche Andrea dieselbe Zufriedenheit.